Liberté, Egalité, Beaujolais – wohl kaum eine flott-flapsige Maxime hätte besser zu ihm gepasst als diese eine: Er war ein ganz Großer seines Metiers, alles andere als mainstream, galt nicht ohne Grund als „Picasso der Karikatur“, als ein Enfant Terrible des Frivolen, Makabren und schwarzen Humors, als Anarchist und Menschenfreund, Persönlichkeit mit Eigensinn, als grafischer Erzähler der besonders bissigen Art… „Humor ist eine Waffe“, sagte er einmal. Er war von enormer Schaffenskraft, hinterließ ein Oeuvre von weit über 150 Büchern – Bildergeschichten, Cartoons, Karikaturen, Comics, sogar Romane und allerlei Kinderbücher… seine Werke wurden in 28 Sprachen der Welt übersetzt. Ungerer hat etwa 40.000 Zeichnungen, über 300 Plakate, Dutzende Ölbilder, Lithographien und Skulpturen geschaffen. Die erotische Provokation avancierte zu seinem Markenzeichen - jedoch immer verknüpft mit Ironie oder scharfem Witz. "Jeder Mensch ist ein Abgrund" - diese weise Erkenntnis Georg Büchners übernahm Ungerer als roter Faden in seinen Arbeiten...
Jetzt ist der Mann, den man wahlweise den „Revolutionär im Kinderzimmer“ oder „den bösen Menschenfreund“ nannte, ist der Zeichner und Buchillustrator in der Nacht vom 8. auf den 9. Februar 2019 in seiner irischen Wahlheimat in Cork im Hause seiner Tochter friedlich im Alter von 87 Jahren verstorben.
Tomi Ungerer erblickte am 28. November 1931 im elsässischen Straßburg das Licht der Welt. Schon seine Lehrer attestierten ihm, "pervers und subversiv" veranlagt zu sein... Nach verpatzter Reifeprüfung, einem schnell gescheiterten Militärdienst als berittener Soldat bei den französischen Sahara-Truppen in Algerien (1952), trampte er dafür durch ganz Europa, veröffentlichte erste Zeichnungen im ›Simplicissimus‹. In New York begann 1956 - mit nur 60 Dollar in der Hosentasche - sein unaufhaltsamer Aufstieg als Illustrator, Kinderbuchautor, Zeichner und Maler.
Ungerer war zeitlebens ein Wanderer zwischen den Welten, ein Entwurzelter mit (elsässischen) Wurzeln (wie er es selber ausdrückte): der
französischen und der deutschen Kultur (oder, was die deutsche Seite in der NS-Zeit angeht: Unkultur), zwischen Frankreich und Irland, Europa und Nordamerika (lange lebte er in New York und
Kanada).
Irgendwie war er, wie Kritiker (in der FAZ oder in der Neuen Züricher Zeitung unisono konstatierten) immer ein ewig Getriebener. Getrieben und ein Mensch voll innerer Unsicherheit. Tomi Ungerer wörtlich: „Ich arbeite schnell. Jede Zeichnung ist ein Blitzkrieg. Ich habe einfach zu viele Ideen, die rausmüssen.“
Seit 1976 pendelte er - mit seiner dritten Frau im Alters-Exil Irland lebend – zwischen der grünen Insel und „seinem“ Straßburg… war bis
zuletzt aktiv, etwa, als er im Dezember 2018 in Paris eine große Werkschau seiner Arbeiten eröffnete… Von 1979 an gab es über einhundert Tomi Ungerer-Ausstellungen weltweit zu sehen… Er war sich
aber - frei von Star-Allüren - nicht zu fein, auch mit andern Künstlern gemeinsam auszustellen, so etwa mit Klaus Staeck in der Darmstädter Kunsthalle 1986.
Ungerer machte auch als Autor und Illustrator von Kinderbüchern von sich reden, etwa mit den Bestsellern "Der Mondmann" und "Die drei Räuber" (beide später verfilmt).
»Bei weitem eins der besten Bilderbücher«, so urteilte ein Maurice Sendak über den Klassiker "Der Mondmann"...
Aber in diesen Kinderbüchern ging es oft um Fressen und Gefressenwerden... "harmlos" waren seine Kinderbücher nur auf den ersten, grafischen Blick. Man müsse, rechtfertigte sich Tomi Ungerer gegenüber seinen pädagogisch besorgten Unkenrufern, den Kinder zeigen, die Welt wirklich sei, sie darauf vorbeiten, ihnen deswegen "ein wenig Angst machen". Im Übrigen hätte die Kinder unter seinen Lesern gar keine Angst vor seinen Geschichten, sondern nur die Erwachsenen.
Scharfzüngige, häufig Bilderbücher für Erwachsene gerieten zu seinem Markenzeichen. Er war aber auch ein hochpolitischer Virtuose der Plakatkunst und ein begnadeter Erotomane, ein „Sexmaniac“ (so eins seiner Erwachsenen-Bilderbücher von auch wenn er nicht müde wurde zu betonen, er halte uns, seinen Lesern, lediglich den Spiegel der Lüsternheit vor… betreibe lediglich "erotische Satire". Ungerer wörtlich: „Mein Motto war immer: Erst bumsen, dann zeichnen.“
Vor allem aber prägte ihn eine unermüdliche Schaffenskraft. Er habe damit, wie er in einem Interview einräumte, „seine Unsicherheit“ überspielen
wollen. Hinter der Maske des makabren Hofnarren verbarg sich ein feinfühliger Mensch voller Weltschmerz, der oft genug an der Welt, wie sie war, verzweifelte… „Ich gebe mich als gebildet und
bleibe doch ein ewiger Dilettant“, so der Mann, der nicht zuletzt in seiner Amerika-Zeit Umgang mit allen führenden US-Intellektuellen und der dortigen High Society pflegte.
In einem Gespräch mit der Wochenzeitung DIE ZEIT sagte Ungerer einmal „Wie kann man mit Hoffnungslosigkeit in der Welt hoffen? Ich trage den
Weltschmerz auf meinen Schultern. Diesen kann ich nur besiegen, indem ich aktiv bin. Ich kann sagen, die Hälfte meines Lebens und meiner Arbeit sind für gute Dinge. Man braucht nur krebskranke
Kinder in einem Spital zu besuchen. Das sollte jeder Mensch einmal gemacht haben. Jedem Menschen mit einer Depression sollte man sagen: Nein, geh nicht zu einem Psychiater, geh auf eine Station
mit krebskranken Kindern. Dann wirst du sehen, was für ein Glück du doch hast.“
1961 erschien „Tomi Ungerers Weltschmerz“, 1982 sorgte er mit seinem Bilderbuch für Erwachsene „Das Kamasutra der Frösche“ für Aufsehen.
In München stiftet Ungerer Bekanntschaft mit Daniel Keel, dessen Züricher Verlag Diogenes die Mehrzahl von Ungerers Büchern publizieren wird.
Ungerers Hausverlag, der Züricher Diogenes Verlag, publizierte seit 1960 nahezu das gesamte Lebenswerk des Zeichners und Geschichten-Erzählers.
Ungerer arbeitet für zahlreiche namhafte Zeitschriften wie "Esquire", "Life", "Holiday", "Harper's Magazin", "The New York Times", aber allen voran
auch fürs Intellektuellen-Magazin "The New Yorker", zudem arbeitet er auch fürs Fernsehen. Ungerer hat nie ganz verwunden, dass nicht er, sondern seine Generationsgenosse Sempé zum
europäischen Stamm-Zeichner des "New Yorker" auserkoren wurde... Das tat seinem Welterfolg aber keinen Abbruch, im Gegenteil...
Der Branchendienst "Buchreport" schreibt: "Zuletzt erschien von ihm u.a. der Katalog zur großen Ausstellung “Incognito” (Kunsthaus Zürich 2015, Museum Folkwang Essen 2016) mit Zeichnungen, Collagen und Plastiken. Seine Werke verkauften sich weltweit in über 17 Millionen Exemplaren.
Als Ungerers “Vermächtnis” stellt Diogenes laut "Buchreport" das Bilderbuch “Non Stop” in Aussicht, das Ende April 2019 erscheinen soll. Es handele sich um eine "Geschichte über Freundschaft, Vertrauen und Menschlichkeit in dunklen Zeiten, für Erwachsene und Kinder”. Ebenfalls für 2019 eingeplant ist der Band “America” mit 300 Bildern aus Ungerers Zeiten in den USA, heißt es im Buchreport.
Der Uhrmacher-Sohn Tomi Ungerer, der als Jean-Thomas das Licht der Welt sah, hat aber nicht nur zahllose Bücher geschrieben und illustriert, sondern er hinterließ auch um die 40 000 Zeichnungen, über 300 Plakate, Dutzende Ölbilder, Lithographien und Skulpturen.
Ungerer gehörte zu den wenigen Künstlern in Frankreich und Europa, denen man bereits zu Lebzeiten ein eigenes Museum widmete. Seit 2001 gibt es in Straßburg ein Tomi Ungerer-Museum, seit dem Umzug 2007 in die prachtvoll-geräumige Villla Greiner ist es jedoch ungemein sehenswert, facettenreich und von internationalem Format. Allein etwa 8.000 Zeichnungen, Plakate, Grafiken und Skulpturen sind dort zu sehen.
Bereits 1988 schuf Tomi Ungerer - eingedenk der Janusköpfigkeit der zwei elsässischen Seelen in der Brust - zur 2000-Jahr-Feier seiner Geburtsstadt
Straßburg Fontaine de Janus - eine Bronzefigur des Janus, deren Kopf aus dem Springbrunnen guckt, während
dahinter drei Pfeiler eines römischen Aquädukts emporragen...
Bekannt geworden ist der wohl bekannteste Elsässer der Welt vor allem mit seinen Kinderbüchern wie die „Die drei Räuber“. In Deutschland gilt zudem „Das große Liederbuch“ - eine illustrierte Sammlung von Volks- und Kinderliedern - seit Jahren als Renner. Ungerer: „Die Kinderbücher waren für mich immer so eine Art von Nebengeschäft, für meinen Spaß.“
Einen großen Teil seines Werks machen denn auch politische Zeichnungen aus. Während seiner Zeit in den USA in den 1950er und 1960er Jahren geißelte
Ungerer mit seinen Karikaturen den Vietnamkrieg und die den Rassismus der Südstaaten. Berühmt wurde er mit seinen beiden Plakaten “Kiss for Peace“ (auf dem ein vietnamesisches Opfer von einem GI
gezwungen wird, den Allerwertesten der mit dem Union Jack notdürftig bedeckten, sich bückenden Freiheitsstatue zu lecken) und Black Power White Power (auf dem ein Schwarzer und ein Weißer sich in
einander verbeißen)… Die Gesellschaftssatire gelang ihm derart gut und treffsicher, dass er zeitweilig sogar ins Visier des FBI geriet.
Er fertigte überdies Kino-Plakate u. a. für die legendären Star-Regisseure Stanley Kubrick (Dr. Seltsam) und Otto Preminger. In seiner New Yorker
Zeit bildete er mit dem Schriftsteller Philip Roth in einem Ferienhaus auf Long Island eine Wohngemeinschaft. Zu seinen weiteren literarischen Freunden gehörten namhafte US-Autoren wie Tom Wolfe
und Saul Bellow. Mitte der 1960er Jahre schockierte Ungerer mit den Cartoon-Büchern „Geheimes Skizzenbuch“ und nicht zuletzt „The Party“, in denen er auf drastisch-satirische Weise die New Yorker
Schickeria durch den Kakao zog. 1969 kam Fornicon heraus, das später in England verboten wurde. Seine Karikaturen stellten Potenzwahn, Sexismus und Gier bloß… Zwei Jahre später, 1971, verließ
Ungerer die USA nach fünfzehn Jahren...
Zurück in Europa - nach Jahrzehnten in New York und Kanada lebte er seit 1976 mit seiner dritten Frau in Irland - setzte er sich für die deutsch-französische Freundschaft ein, bekam dafür das Bundesverdienstkreuz. Mehr noch: Ungerer erhielt zahlreiche Auszeichnungen, so etwa 1983: den Jacob-Burckhardt-Preis der Johann-Wolfgang-Goethe-Stiftung in Basel. 1992 ernannte man ihn zu einem der 500 World Leaders of Influence - durchs American Biographical Institute. 1995 erhielt er Frankreichs „Großen Nationalpreis für Graphik“, 1998 folgte der Internationale Hans-Christian-Andersen-Preis, 2001 ehrte man ihn als Offizier der französischen Ehrenlegion. Er bekam aber auch 2002 die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg, 2003 den „Erich Kästner Preis für Literatur“ der Münchner Erich Kästner Gesellschaft e. V., 2005 den e.o.plauen Preis. 2017 nahm Tomi Ungerer gar den „Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten“ im Rahmen des Bayerischen Buchpreises entgegen und zuletzt beförderte ihn Staatspräsident Macron 2018 zum Kommandeur der Ehrenlegion (Commandeur dans l’ordre national de la Légion d’honneur‹ durch den französischen Präsidenten). Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann verlieh ihm – ebenfalls 2018 – die ›Ehrenprofessorwürde‹ von Seiten des Staatsministeriums Baden-Württemberg.
1989 schuf Tomi Ungerer zum 200. Jahrestag der Großen Französischen Revolution (1789-1799) unter dem Titel "Liberté, Egalité, Fraternité" ein kongeniales, bitterböses und luzides Portfolio, das sich wie ein Vermächtnis des Künstlers und ein historisch-moralisches Lehr- und Schauerstück liest.
Im Sommer 2010 stellte er für eine Ausstellung in der Gedenkstätte KZ Osthofen bei Worms ausgewählte Grafiken und Zeichnungen seiner Kindheits- und Jugendzeit zur Verfügung.
Dort waren jene tief traumatischen Zeichnungen zu sehen, die der kleine Tomi von der deutschen Besatzungszeit des Elsass unterm Hakenkreuz malte. Der überzeugte Europäer Ungerer dazu: „Wir Elsässer können einen guten Beitrag beim Zusammenwachsen Europas leisten: Wir hassen Arroganz und Gewalt, wir haben lange gelitten, aber jetzt sind wir der Brückenkopf zwischen Frankreich und Deutschland.“ Mehr noch: „Elsässer Luxus. Wir, die Elsässer, haben ein gutes Gewissen. Unser Humor ist nicht mit Schuld besudelt, auch wenn er schwarz ist.“
Erst vor kurzem hatte der Meister der führenden US-Comicfachzeitschrift The Comics Journal und ihrem Herausgeber Gary Groth ein Interview
gegeben - Überschrift: "The Fear and Anger of Tomi Ungerer" (Furcht und Zorn des Tomi Ungerer). Wie sich herausstellte, war es sein letzter Abschiedsgruß an seine alte Wahlheimat Amerika...
(Journal-Ausgabe Januar 2019). Tomi Ungerer war ein Tausendsassa und Multi-Talent: Zeichner, Maler, Illustrator, Kinderbuchautor und Werbegrafiker, Schriftsteller, Comic-Zeichner und Cartoonist…
Sein Credo als „Aufzeichner“ formulierte er so: „Ich zeichne, was ich aufschreibe, und ich schreibe auf, was ich zeichne, um einen Gedanken klar, kurz und bündig auszudrücken.“
Er blieb zeitlebens ein Lausbub mit Lästerzunge, Libido und Lust am Larifari: Das Elsässer Enfant Terrible Tomi Ungerer war ein sanfter Subversiver, frivoler Provokateur und Meister des Makabren.
Auch mit dem Tod setzte er sich auseinander – in der ihm eigenen Art: „Ich will stehend begraben werden. Mein Grab soll ein Fahrstuhl
mit einem Sehschlitz sein, damit ich auf Knopfdruck aufsteigen und über die elsässische Ebene blicken kann.“
"Er war nicht nur ein großer Künstler, er verkörperte auch die Komplexität des Elsass, seiner Doppelkultur. Wir haben uns vorgestellt, dass es ewig ist, und jetzt verlässt er uns", zitierte die Zeitung Les Dernières Nouvelles d'Alsace Alain Fontanel, den ersten stellvertretenden Bürgermeister von Straßburg.
Schon zu Lebzeiten hatte Tomi Ungerer dank seiner Werke und seines grandiosen Könnens Unsterblichkeit erlangt. Sein Vermächtnis klang in einem
Gespräch mit der "ZEIT" denn auch so: "Ich bin spielerisch, halb Max und halb Moritz. Meine Güte, was ich schon alles angestellt habe! Meine Streiche sind irgendwie kindisch, aber ich
schäme mich nicht dafür. Ich muss Spaß haben mit einem Buch, und die Kinderbücher mache ich eigentlich vor allem für das Kind in mir." Tomi Ungerer war ein Jahrhundertmann, wie es sie
nur einmal im Leben gibt. In seinem Werk lebt er weiter. KLAUS
ALBECK