Bisher war es die Domäne der belgischen Comic-Novellistin Judith Vanistendael, jetzt widmet sich auch eine deutsche Comic-Künstlerin einem vergessenen Kapitel deutscher Kolonialgeschichte: Doch nicht, wie zu erwarten wäre, zum Herero-Völkermord in Deutsch-Südwest, sondern zur skandalösen Ausbeutung mosambikianischer "Leiharbeiter" in der "sozialistischen" DDR.
Für ihre Comic-Erzählung „Madgermanes“ hat die Hamburger
Comic-Künstlerin Birgit Weyhe (Jahrgang 1969) den diesjährigen Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung erhalten. Damit ist sie, die man aus 113 Bewerbungen auserkor, zugleich erste Preisträgerin des erstmals verliehenen deutschen Comicbuchpreises. Mit dem Preis zeichnet die Berthold Leibinger Stiftung jährlich einen hervorragende, unveröffentlichte, deutschsprachige Graphic Novel aus. Mit ihrem dezidierten Literaturpreis, der mit 15.000 EUR dotiert ist
und aufs grafische Erzählen abstellt, will die Berthold Leibinger Stiftung eine Kunst- und Literaturform fördern, die es in Deutschland bislang schwer habe.
Zusätzlich zeigt eine Ausstellung im Literaturhaus die
Arbeit Birgit Weyhes an „Madgermanes“ und zahlreiche weitere Exponate. Die Schau ist als Wanderausstellung konzipiert und wird im Anschluss unter anderem im Literarischen Colloquium Berlin gezeigt.
„In „Madgermanes“ erzählt Birgit Weyhe von den Erfahrungen mosambikanischer Vertragsarbeiter inder DDR der 1980er Jahre.“ Damit drehe die Autorin die übliche Perspektiveeines deutschen Blicks auf die Welt um, porträtiere zugleich einen Staat vordessen Untergang. Die Jury des Comicbuch-Preises wörtlich: „Die durch Gesprächemit ehemaligen Vertragsarbeitern recherchierten Fakten werden von Birgit Weyhederart subtil mit Erinnerungsobjekten und allegorischen Motiven angereichert,dass ein Comic im Entstehen ist, der in seiner Bild- und Erzählsprache selbstdie Grenzen zwischen afrikanischer und europäischer Kultur überschreitet.“ Birgit Weyhes Comic-Erzählung der anderen Art soll im nächsten Jahr, 2016, im Berliner auf anspruchsvolle Comic-Novellen spezialisierten Avant-Verlag erscheinen.
Die Comicerzählung Die Madgermanes fokussiert auf einen weitgehend
unbekannten Teil deutsch-deutscher Geschichte. So behielt das SED-Regime der damaligen DDR 60 Prozent der Löhne dieser (Sklaven-)Arbeiter ein, versicherte, dass sie nach der Rückkehr nach
Mosambik ausbezahlt würden. Freilich: Das ist bis heute nicht geschehen. Nach der Wende war das Geld verschwunden – Schalk-Golodkowski lässt grüßen. Rund 15.000 Menschen wurden offenkundig um ihren gerechten Lohn betrogen. Allein in Stuttgart leben zur Zeit noch etwa 50 „Madgermanes“. Eine rechtliche Klärung steht
noch immer aus.
Unter den ebenfalls ausgezeichneten Finalisten des Comicbuchpreises
2015 der Berthold Leibinger Stiftung befinden sich auch zwei bekannte deutsche Comic-Künstler: Zum einen Anke Feuchtenberger mit ihrer Arbeit „Ein deutsches Tier im deutschen Wald“, zum anderen Schwarwel (mit der Comic-Erzählung „Seelenfresser – Hoffnung“). Daneben prämierte die Jury folgende in die Endrunde gelangte „zweite“ Gewinner-Arbeiten: Alan Turing von Robert Deutsch; Venustransit von Hamed Eshrat und Im Park von Jul Gordon; Lucky Boy von Lea Maria Heinrich, Ein tugendhafter Kopf von Nienke Klöffer, Plus minus Null von René Rogge und Candide oder der Optimismus, Voltaire von Ji Hyun
Yu.
Der Jury des ersten deutschen Comicbuchpreises 2015 gehörten
an: Andreas Platthaus (FAZ Feuilleton, Frankfurt), Vorsitzender; David Basler (Edition Moderne, Zürich), Professor Dr. Frank Druffner (Kulturstiftung der Länder), Dr. Brigitte Helbling (Hamburg), Prof. Dr. Florian Höllerer (Leiter Literarisches Colloquium Berlin und frühere Leiter des Stuttgarter Literaturhauses), Dr. Stefanie Stegmann (Leiterin Literaturhaus Stuttgart), Dr. Thomas von Steinaecker (Augsburg) und last but not least Lars von Törne (Tagesspiegel, Berlin)
Die Berthold Leibinger Stiftung engagiert sich auf den
Gebieten Wissenschaft – hier vergibt sie zwei renommierte Laserpreise –, Kultur mit den Schwerpunk-ten Literatur und Musik sowie Kirche und Soziales. Sie wurde 1992 von Berthold Leibinger gegründet. Die Stiftung ist mittelbar über die Berthold Leibinger Beteiligungen GmbH mit 5% an der TRUMPF GmbH + Co. KG beteiligt.
Preisstifter Prof. Berthold Leibinger
Foto: (c) Berthold Leibinger Stiftung