Dieser Bilder-„Roman eines Revolutions-Abenteurers“ aus der Feder des Franzosen Pascal Rabaté - Jahrgang 1961, geboren in Tours - kommt als Graphic Novel der besonderen Art daher: Ein schwergewichtiger Band im XXL-Format, wahrlich ein Hardcover, 528 Seiten plus Bonus-Material, Leseband, Druck in exzellenter Qualität: Mal ein klares Signal für „Literatur im Comic“, tatsächlich als solche, nämlich nach dem Schelmenroman "Ibykus" von Alexei Nikolajewitsch Graf Tolstoi aus dem Jahre 1924 (1882/83-1945) - wohlgemerkt nicht zu verwechseln mit dessen ziemlich entfernten "Krieg und Frieden"-Verwandten Leo Tolstoi...
Dass der Autor Rabaté zu den spannenden Autoren der Nouvelle Vague des französischen Autorencomics gehört,
hat er bereits mit Werken wie "Rein in die Fluten" (zusammen mit David Prudhomme) oder "Bäche und Flüsse" unter Beweis gestellt, in Kürze erscheint von ihm auch das Zweite
Weltkriegs-Alltagsdrama "Zusammenbruch"... Jetzt endlich hat sich ein deutscher Verlag an sein in Frankreich bereits 1998 bis 2001 entstandenes opus magnum "Ibykus" gewagt, das ursprünglich bei
"Vents d'Ouest" erschienen und nun im Repertoire des Hamburger Schreiber & Leser Verlags zu finden ist... und das alles unter dem eingedeutschten Titel "Der Schwindler".
Rabatés Story geht kurz gefasst so: „Semjon Iwanowitsch Newsorow führt das ereignislose Leben eines kleinen Büroangestellten und träumt von Reichtum und Glück. Da es ihm entschieden an Tatkraft und Mut mangelt, wird es wohl beim Träumen bleiben. Doch in den Wirren der Oktoberrevolution und dem nachfolgenden Weltkrieg ist dem Mann "ein sensationelles Schicksal beschieden...“.
Allerdings mit vielem Auf und Ab, mit Glück – und mit Chuzpe und Durchtriebenheit: Weil ihm Reichtum und Macht aus der Hand gelesen
werden, lässt Rabatés Protagonist sich auf Gaunereien ein, nutzt die Gunst der Stunde – und wird schließlich vom sowjetischen Geheimdienst requiriert. Es ist die oft wortlose Geschichte eines
gerissenen Anpassers und Opportunisten, dem es ein ums andere Mal gelingt, die Bolschewiki an der Nase herumzuführen. Dabei verarbeitet dieser andere Tolstoi ein Stück
weit seine eigene Lebensgeschichte eines geschickten Opportunisten: Erst machte er sich für die zaristische Seite stark, floh gar außer Landes, später - wieder zurückgekehrt in Stalins
Sowjetunion des Schreckens - mutierte derselbe Tolstoi Zwei zum linientreuen und stalinhörigen Präsidenten des sowjetischen Schriftstellerverbands... allein in dieser Wechselwirkung zwischen
Wirklichkeit und vermeintlicher Fiktion tun sich menschliche Abgründe auf... getreu der Maxime: Der Zweck heiligt die Mittel...
1917 gerät denn auch zum Schicksals-Jahr seines Alter Ego-Anti-Helden. Seine Roman-Figur landet schließlich in Istanbul, trifft immer
wieder den gleichen „Gesellen im Geiste“, lässt sich immer wieder überreden … wir erleben, wie sich dieser Hochstapler im Windschatten der revolutionären Ereignisse vom kleinen Buchhalter zum
Grafen durchschwindelt...
Das Ende bleibt offen, wie der abseitige Tolstoi zitiert wird. Leser erfährt eine Menge über die Revolutions- und Umbruchs-Zeit der beginnenden Sowjetunion, in einigen Charakteren passend und nachvollziehbar komprimiert.
Rabaté ist hier eine fulminante Comicadaption des Tolstoi-Romans "Ibykus. Die Emigranten" gelungen, ein Alltags- und Anpasser-Panorama
der Russischen Revolution von 1917 und ihrer Folgen... als Reportage über einen Rückgratlosen... dieser Bilderroman hätte mithin treffend auch "Der Wendehals" heißen können...
Literatur in ihrer reinsten Form, grafisch bestens in Bild gesetzt! - Das Bonus-Material zeigt u.a. vertiefte Entwürfe im Kunststil der „Brücke“, im Grunde expressionistisch, am nächsten dem von Ernst Ludwig Kirchner kommend. Die Panels selbst sind ausschließlich in Schwarz-Weiß-Grau gehalten: Konzentriert je auf das Wesentliche statt das Umfeld auszuführen – in diesem Sinne à la Ligne Claire. Doch arbeitet der Künstler Pascal Rabaté andererseits stark mit Schatten und flächig-verwischtem Pinsel, versteht es, die Gesichter mit wenigen Strichen mimisch eindeutig zu pointieren.
Je nach Stimmung, also Situation, gibt es mehr „grau in grau“ oder klares Schwarz-Weiß…
Kein Wunder, dass Rabatés "Ibykus", wie "Der Schwindler" im französischen Original heißt, von der Kritik und dem Publikum überschwenglich gefeiert, im Jahr 2000 nicht zuletzt Europas begehrten Comic-Oskar, den Prix Alph'Art fürs beste Album des Jahres einheimste (heute hört der Preis auf den Namen Fauve/Wildkatze...).
Ein gewaltiges Kunstwerk, eben ein wahres der – Neunten Kunst! Pascal Rabaté lesen, das ist spätestens mit diesem
Werk ein Muss! Einfach genial.
HPR
Pascal Rabaté:
"Der Schwindler"
Verlag Schreiber & Leser, Hamburg 2018
ISBN 978-3-946337-63-8
Seitenzahl 544 Seiten,
gebunden, schwarz-weiß
Preis 39,80 Euro
Hanspeter Reiter, Jahrgang 1953, lebt und arbeitet in Dorfen bei München, ist COMICOSKOP-Redakteur der ersten Stunde, schreibt regelmäßig fürs COMICOSKOP über den deutschsprachigen Comic-Markt in all seinen Schattierungen und rezensiert in bewundernswert hurtiger Lucky Luke-Manier "schneller als sein Schatten schreibt"...